Die Novellen
Der Lakai
»Scrutenai, verdammte Scheiße!«
Cucu Chuptschik schreckte aus seinen süßen Träumen, die sich im Tageslicht des späten Morgens jäh in Verwirrung und Aufruhr verwandelten. Um Orientierung bemüht, versuchte er herauszufinden, warum sein Schädel wie eine zentnerschwere Last drohte, von seinem dürren Hals zu purzeln und warum um alles in Erde er wieder verschlafen hatte. Als er das gleichmäßige Heben und Senken seiner Seidendecke bemerkte und den braunen Lockenschopf, der darunter hervorschaute, fiel ihm der junge Kellner aus dem Käseloch wieder ein, in dem Cucu am gestrigen Abend für seinen Herrn Inventur gemacht hatte. Bevor mich dieses bezirzende Lächeln in seinen Bann gezogen hat … und jetzt brüllt mein Kopf vor Schmerzen und mein Herr von der Straße. Bravo, Chuptschik.
»Wollen mich die Götter zum Narren halten? Hornazio steh ihnen bei!«, setzte es von draußen weiter fort.
Cucu spähte schüchtern durch die Vorhänge, obgleich er es sich auch hätte sparen können. Die Wut im Hals von Babo Boyash war unüberhörbar, die Lage hätte ernster nicht sein können. Um sicherzugehen, dass Cucu auch begriff, wen die Götter wahrhaftig zum Narren halten wollten, dröhnte ein inbrünstiges »Chuptschik!« durch die Straßen des Viertels.
Auch dies war wenig überraschend, dennoch hatte er den Anstand zusammenzuzucken. Hastig stürzte er zur Ankleide, um sich eine geschmeidige Seidentoga überzustreifen. Kurz fuhr er noch über die sich rührende Lockenpracht und schlüpfte sodann ungelenk in seine Sandalen. Anschließend stolperte er die Stufen hinab aus dem ersten Stock in das Verkaufslager, in dem sich leere Kisten und umgekippte Amphoren stapelten.
In der morgendlichen Umtriebigkeit der Verkaufsstraße brüllte ein wutschnaubender Boyash soeben einen sommersprossigen Burschen zusammen, der nicht mehr als sechzehn Namenstage hatte zählen können. Die speckige Pop Penga fuchtelte duckmäuserisch mit ihren kurzen Ärmchen bei dem erfolglosen Versuch, den aufgebrachten Hitzkopf zu beruhigen. Sichtlich fiel der Ladnerin ein Stein vom Herzen, als sie Chuptschik erblickte, der im heiteren Trubel der Gerberzeil verloren und ratlos dahereilte.
»Na endlich«, schrie den Letzteren sein fettleibiger Herr an. »Einen gemütlichen Morgen gehabt?«
»Mein Herr«, entfuhr es Cucu kleinlaut, der sich immer noch bemühte, ein Bild von der Situation zu machen, die ihn gerade so unermüdlich drangsalierte. Er bemerkte einen stechend scharfen Gestank gleich faulen Eiern, geronnener Milch und verrottetem Fleisch. »Was?«, wollte er fragen, als er die Schubkarre mit der sperrigen Holzkiste erblickte, um die sich die Fliegenschwärme drehten. Im Inneren des Kastens bewegte sich dermaßen zahlreiches Gewürm und Kleingetier, dass es Cucu schwindelte und er fürchtete, den Wein vom Vorabend noch unvermittelt loswerden zu müssen. Ein nutzloser Haufen dunkelgrüner Tierhäute schimmelte dort vor sich hin. »Ist dies das Schafsleder, das wir heute erwarten?«
Boyash blickte ihn an, als wäre Cucu soeben von einer Astgabel gefallen. »Nein, ich habe noch einen Haufen Scheiße bei Aizaf in Auftrag gegeben.«
»Was… was ist passiert?«, fragte Chuptschik verdattert.
»Wir haben die Bestellung vom Syndikat erhalten, das Siegel gebrochen und das ist zum Vorschein gekommen«, bemühte sich Pop Penga die Angelegenheit zu erläutern, obgleich ihr anzusehen war, dass sie ebenso ratlos war wie die anderen.
»So, mir reicht es, beim leibhaftigen Curbast«, schoss es aus dem mächtigen Brustkorb von Boyash. »Im Laufe des Nachmittags wird der Gesandte des Magistrats in der Zeil auflaufen, und er wird fünfzig Häute aus gegerbtem Leder erwarten, die nicht nach meinem krepierten Großvater stinken.« Dann fasste er Chuptschik missbilligend ins Auge und knurrte ihn an. »Und sollte er sie nicht bekommen, hast du vielleicht eine Idee, wer für meinen Verlust aufkommen wird, mein werter Cucu?«
Verdattert ließ der die Schultern hängen und fragte sich, ob dies eine Drohung war, nur um sich im nächsten Moment für die Dummheit dieser Frage selbst zu schelten.
»Du kümmerst dich um diese verfluchte Scheiße«, grummelte der Dicke, bevor er sich abwandte. »Ich muss jetzt zur Tändelei mit Viaza Viurlans, dieser drei mal dreihundertdreiunddreißig Mal von Scrutenai durchgefickten Fotze, um meine Bonität aufzupolieren, Scrutenai im Namen Hornazios. Sollte mir die Bank des Ehrbaren den Geldhahn abdrehen, bleibt mir nur der Hechtsprung in den Abyss.«
Nachdem der fluchende Schnauzbartträger in den Wirren der Zeil verschwunden war, nahm Cucu sich Zeit, die verdorbene Ware in Augenschein zu nehmen. »Die Lederstücke tragen allesamt unser Siegel«, konstatierte er. »Nach fhazischem Vertragsrecht ist sie damit an uns konkretisiert.« Cucu wandte sich an den Rotz und Wasser schwitzenden Jüngling. »Du hast die Kiste hergebracht. Wie kann es sein, dass alles darin verkommen ist?«
»Henninger hat sie mir verschlossen übergeben«, stammelte der Bursche verlegen.
»Und dafür hundert Tecel bekommen«, merkte Ladenchefin Penga an. »Und zweihundert hätte uns der xylvondorische Gesandte gezahlt«, murmelte Cucu. »Es hilft nichts. Wir bringen die Kiste zum Syndikat und verlangen unser Geld zurück.«
Herzhaftes Gelächter ertönte neben ihnen.
Ein Tross von vier vollständig tätowierten Muskelbergen in braunen Lendenschurzen hielt neben ihnen. Sie hatten zwei dicke Holzbalken geschultert, an die eine breite, durchhängende Plane geknotet war. Und darin lag der Bläuter, einer von Barnathan Balkas Handelspaten, mit seinem berüchtigten Riesenwanst, der ihm den Zunamen »Blähbauch« eingetragen hatte. Unablässig stopfte er sich den Rachen voll mit in Aspik eingelegten Insekten, die ihm eine barbrüstige Dienerin aus einer Schale darreichte. »Chuptschik Klappergestell«, lachte der Fettsack, »ich habe dich Besenstiel fast gar nicht bemerkt.« Der riesige Leib des Hängebauchschweins schüttelte sich und klebrige Reste zerkauter Maden, Schaben und Asseln krümelten am Wanst hinab.
Chuptschik versuchte, ihn zu ignorieren, auch wenn sich dies als ein von vornherein zum Scheitern verdammtes Unterfangen darstellte.
»Was? Ist das die Ware, die Boyash, dieser klägliche Schweinehirte, neuerdings seinen Kunden anbietet?« Bläuter lachte so herzhaft, dass er sich böse verschluckte und zermalmte Überreste von Würmern und Käfern durch die Luft hustete.
Möge Curbast ihm den Atem abschneiden, bis er elendig verreckt.
Der Gott tat Cucu den Gefallen nicht, denn Blähbauch hatte sich wieder gesammelt. »Warizev hat euch verflucht. Dein Herr sollte die Zeil räumen und mitsamt seinem Unrat in der Kloake verschwinden.«
Cucu bemühte sich inständig um Fassung, doch konnte nicht anders. »So wie der Baas von Balka es vorgemacht hat? Wenigstens haben wir noch Ware.«
»Das sehe ich.« Bläuter wischte sich mit fettigen, belutschten Stummeln die Tränen aus den Augen, die nun hämisch und bitterböse schimmerten. Zwei weitere Kraftprotze mit Knüppeln am Schurz stiefelten heran und schleppten eine bronzene Truhe. Auf Anweisung Bläuters öffneten sie die Lade und ein Stapel feinster, frisch duftender Lederhäute kam zum Vorschein. Es müssen ungefähr fünfzig sein, was beim Warizev …
Das Schnipsen von Blähbauchs Fingern klang irgendwie schmalzig und der Deckel klappte wieder zu. Einer von Balkas Eunuchen verriegelte ihn mit einem stählernen Vorhängeschloss. »Ihr könnt eure Ware gerne nachmittags dem Fubentutschi präsentieren. Ich behalte mir vor, dasselbe zu tun.«
Cucu rieb sich nervös den Schweiß von seiner Glatze, die im Sonnenlicht schmorte. »Ihr seid ein widerlicher Mistsack, Blähbauch. Möget ihr an euren dreckigen Komplotten ersticken.«
Der Bläuter rülpste vergnüglich und Schleim lief ihm aus der Nase. »Wenigstens ersticke ich nicht an einem Haufen Scheiße, Besenstiel. Haha.« Er winkte ab und der Tross zog weiter zu Balkas Lokalität in der Zeil, nicht weit von ihnen.
»Wie ist das möglich? Die Balkahallen sind doch mit dem Wiederaufbau der Ba beschäftigt«, stöhnte Pop Penga ratlos.
»Das bestellte Kontingent in so kurzer Zeit zu bedienen, kann nur eins bedeuten«, schlussfolgerte Cucu. »Die Schlangen haben auch den Blähbauch beliefert. Die Frage ist, haben sie uns dabei betrogen oder nicht?«
Die kleine Penga zeigte auf ihre schimmlige Kiste. »Erübrigt sich die Frage nicht?«
»Mit den Slyn zu kontrahieren, nach allem, was vorgefallen ist, mutet wie eine kühne Torheit an«, hatte Cucu den Schneid, offen anzuprangern.
»Unser Herr gedachte wohl, das Klapperschlangen-Syndikat würde sich nicht in die Angelegenheiten des Hisk-Kartells einzumischen gedenken. Schließlich stehen sie im Wettbewerb miteinander und haben auch sonst wenig füreinander übrig.«
»Der Schlange auf den Giftzahn zu fühlen, ist nun unser Joch, das wir nicht ohne Weiteres abzuwerfen vermögen.« Cucu seufzte. »Du, Bursche«, sprach er sodann den pickligen Jungen an, der sich bemühte, den Kopf eingezogen zu halten, »wie ist dein Name?«
»Lars, der Herr«, entfuhr es dem Hänfling, der trotz des heißen Tages unentwegt schlotterte.
»Lars, ich fürchte, die Lieferung können wir so nicht abnehmen. Du wirst sie zurückbringen und ich werde dich begleiten.«
»Mein Herr, die Slyn sind im Aufruhr. Sie haben überall Straßensperren errichtet und die Viertel abgeriegelt. Ich und die Kiste sind gerade so noch rausgekommen.«
Cucu legte die Stirn in krause Falten.
»Herzlichen Glückwunsch, Cucu«, kommentierte die pummelige Penga und kratzte sich ihr hängendes Kinn. »Du willst das Syndikat besuchen, während im Viertel ein bewaffneter Konflikt droht? Die Kupfernen werden sich nicht lange bitten lassen, und schon triefen die Straßen vor Blut. Soll deins auch darunter sein? Wer bist du? Fhrafhrafhra, der Leibhaftige?«
Diese Nachrichten machen die Lage keinen Deut besser. Die Python ist verletzt und die Slynviertel sind ein Pulverfass.
»Unserem Herrn ist auch nicht damit geholfen, wenn wir uns umbringen lassen, Cucu.«
»Also wird er es stattdessen selbst erledigen.«
Eingeschüchtert rieb Penga sich die Knollnase mit einem ihrer Siegelringe, derweil Cucu so scharf nachdachte, dass ihm die Schläfen schmerzten. »Sag dem Adrecaner, er soll sich darum kümmern. Das ist ein Auftrag, der seinem Wesen bestens entsprechen sollte.«
»Der Adrecaner?« Pengas Kiefer klappte auf.
»Bestmöglich soll er rausfinden, was da schiefgelaufen ist. Und darüber hinaus soll er das Geld oder die Ware mitbringen, sag ihm das.«
Pop schaffte es tatsächlich, noch verdrießlicher dreinzublicken. »Parthenokarpia steh ihm bei, solche Missionen enden zumeist im Elysium.« Fragt sich nur für wen, den Adrecaner oder seine unglückseligen Mitmenschen?
»Das wird nie funktionieren.«
»Ja, ich weiß«, seufzte der Hagere bitter. »Deswegen muss ich die Gunst Piphaistes anflehen, uns Gnade zu gewähren.«
»Was hast du vor, Cucu Chuptschik?«
»Ich frage die Phemen.«