Schwarz war die Nacht, sternenlos und doch kalt.
Der Mann hielt sein Hemd am Kragen zusammen und scharf wehte ihm salziger Sand in die geäderten Augäpfel. Tapfer stapfte er voran. Das rötliche Flackern lockte ihn nahezu schüchtern im dunklen Dräuen, dennoch ein Schimmer in der Finsternis. Viel hatte es ihr nicht entgegenzusetzen, doch immerhin.
Eine reglose Gestalt saß vorgebeugt am Feuer, als würde sie kauern.
Der Wanderer räusperte sich durch seinen spröden Bart, bekam jedoch keine Antwort. So trat er an den Schein heran, dessen zarter Hauch seine geschundenen Wangen zärtlich liebkoste.
Die Gestalt entpuppte sich als verhärmte, grauhaarige Frau, die offenbar in eine dicke Lektüre vertieft war.
„Darf ich mich zu dir setzen?“ Seine Stimme war kratzig und das Wetter nahm ihr auch die letzte Kraft.
Dennoch deutete die Leserin ein Nicken an.
Dankbar sank er nieder und labte sich an der wärmenden Flamme. So allmählich die Taubeit in seinen oberen Extremitäten zurückwich, wünschte sein Herz eine ähnliche Behandlung. „Was liest du?“
Sie sah nicht auf und blätterte stattdessen still eine Seite um.
Diese Dreistigkeit konnte er kaum fassen, doch schluckte er den Groll herunter und starrte wippend in die leere Dunkelheit.
„Raidark.“
Als sie ihn ansprach, wäre er beinahe vor Schreck ins Feuer gekippt.
„Häh?“
„Raidark - ich lese Raidark.“
Der Bärtige kratzte sich Sand vom Stirnlappen. „Was‘n das?“
Als sie sich wortlos in das Buch vertiefte und ihn erneut anschwieg, verlor er die Geduld.
„Raidark? Was - wer ist Raidark?“
„Der Untergang - er ist Autor des Untergangs“, antwortete die andere bestimmt und gefasst.
„Des Untergangs? Was denn für‘n Untergang? Vom Sonnenuntergang? Ach nee, sag nich‘, es is‘ so Minnesang, wie es Barden vortragen. Davon krieg ich immer Kopfweh.“
„Der Untergang Dalias“, fügte sie ruhig hinzu. „Der Untergang durch das Verhängnis.“
„Dalia, hm?“ Bei dem Wort schauderte es ihn unwillkürlich. „Is‘ kalt“, versuchte er seine Reaktion wegzulachen, doch die Frau reagierte wieder nicht. „Ich dachte, das seien Kinderschrecken. Dalia hat es nie wirklich gegeben.“
Da funkelte sie ihn aus aschgrauen Augen an. „Genau diese Worte sagst du aufgrund des Untergangs. Das Patriziat jenseits des Meeres der Ewigen Tränen - nie gegeben? Fielen sie nicht in die Schatten und niemand hörte jemals mehr auch nur einen Klageschrei von ihnen? Schiffe zerbrachen an Wetterfronten wie Glas, Männer erblindeten von der Gischt und Nebel zerrissen die Herzen der Wagemutigen - zumindest derer, die sich nicht zuvor im Wahnsinn das Leben genommen hatten.“ Sie spuckte in das Feuer, das den Klumpen zischend in Empfang nahm. „Es geht um Götter und Dämonen, Könige und Vigilanten - um Völker, Sippen und Clans, Helden und Schurken, es handelt von Liebe, Verrat und Trauer, Glauben, Triumph und Verlust. Schmerz. Es geht um Schmerz. Und Tod. Ja, ganz viel Tod kommt auch darin vor. Und es ist ganz schön blutig. Nie gegeben ...“ Sie machte einen abfälligen Laut.
Der Wanderer rieb sich die Schultern, doch die Gänsehaut war hartnäckig. „Was ist mit ihnen passiert?“
Die Alte warf ihm einen warnenden Blick zu. „Niemand weiß es, also woher soll ich so was wissen? War ich dabei? Habe ich etwa das Verhängnis überlebt? Deshalb lese ich das Buch.“
Einsichtig nickte er und ließ seinen trüben Blick durch die Düsternis der Fernen schweifen. Da plötzlich weiteten sich seine Pupillen und er wandte sich abermals der Leserin zu. „Wenn niemand das Verhängnis überlebt hat, wer hat dann das Buch geschrieben?“
Erschrocken fuhr er herum, als er das Geräusch eines brechenden Zweiges hörte.
Sie schenkte ihm ein dreckiges Lächeln. „Du kennst die Antwort.“