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Die Geschichte von Vater und Sohn

»Hat es dir gefallen?«

Nackt, wie er war, erhob er sich aus den seidenen Laken und vermied jedes Wort.

Ila blickte ihm nach, bestaunte die tätowierte Python auf dem Rücken, die das Narbengeflecht zu einem komplizierten Muster verwob. Ein Mann seiner Herkunft sollte nicht so gezeichnet sein, dachte sie jedes Mal, wenn sie ihn ansah. Und dann wieder wunderte sie sich über seine jungenhafte Unbekümmertheit, diese Momente, in denen er sich voller Zufriedenheit im Spiegel betrachtete. Die Nachtluft wehte durch die Vorhänge und umspielte seine blonden Locken, die er mit einem Schwung aus dem Gesicht warf, als wäre er ein Freudenmädchen. Waylon Hisk war voller Widersprüche und womöglich war das der Grund, warum sie am liebsten Zeit mit ihm verbrachte.

Er stolzierte zu der verzierten Anrichte und goss dunkelroten Wein in zwei Kelche, wobei er etwas verschüttete.

»Lucio!«, war das erste, was seine Lippen verließ, seit sie sich voneinander gelöst hatten.

»Ihr Adrecaner immer mit Lucio. Was soll das, Lucio?« Ihr war bekannt, dass manche Lucio wie einen Gott anbeteten, aber sie behielt ihr Halbwissen für sich, um ihn zum Reden zu bringen.

Amüsiert ließ er sich auf die Decke fallen und reichte ihr den Kelch. »Lucio ist der Verstoßene, Patron der Armen und Verhassten.«

Sie nahmen einen tiefen Schluck, und Ila genoss die fruchtige Note auf ihrer Zunge.

»Er ist Gottes Sohn. Habt ihr in NoÄ“th keine Götter?«

»Im alten NoÄ“th, im NoÄ“th vor dem Untergang, gab es nur einen Gott, den die Menschen wirklich angebetet haben - das Gold.«

Waylons Grinsen wurde breiter und seine hellblauen Augen funkelten. »Eine Schande, dass eine so fortschrittliche Zivilisation unterworfen wurde. Das ist Tyrannei. Nichts anderes ist Adama, ein Tyrann, an den andere Tyrannen glauben, um in seinem Namen Tyrannei zu verbreiten.« Er stellte den Kelch weg und legte sich auf den Rücken. »Aber Lucio - Lucio ist Auflehnung, Lucio ist Freiheit, er ist Liebe. Nicht dieses Opfer, den die Bettelbrüder in ihren Kutten aus billiger Jute anbeten, nein, Lucio, wie in Sternhagels Lobpreis der Kleriker - der echte Lucio, den sie alle so hassen und verachten. Eine lange Geschichte.«

»Und du kennst sie?«

»Jeder Adrecaner kennt die Geschichte.«

Sie leckte sich sanft über die Lippen und umgarnte ihn mit einem Schlag ihrer langen Wimpern. »Komm, erzähl sie mir.«

Er neigte den Kopf ein wenig und die Härchen auf Ilas Armen richteten auf.

Andächtig und lange atmete er aus. »Adama hatte sieben Söhne.«

»Sieben Söhne und keine Tochter?«

»Ha! Das ist immer das erste, was die Weiber wissen wollen, warum hatte der alte Sack keine Töchter? In den Versen heißt es, jede Blume sei Adamas Tochter, jeder Stern, jeder Kometenschweif am Firmament.«

Ila zuckte unbeeindruckt die Schultern. »Und eine Tochter in einem richtigen Körper wollte er nicht?«

Er schüttelte den Kopf. »Es soll heißen, dass er unzählige Töchter hatte, mehr als Blumen auf dem Feld, mehr als der Himmel Sterne hat, jedes Weib, das auf Erde wandelt, ist seine Tochter.«

Sie nahm noch einen Schluck und versank im warmen Klang seiner Stimme.

»Denn ihr alle stammt von ihr ab, Saana, der schönsten und edelsten Blüte, die jemals das Antlitz des Himmels berührt hat. Adama hatte gerade den Abort von Coryphoz mit der Betrunkenen See ausgespült, als es ihn tief im Herzen verlangte, Schönheit und Anmut zu erfahren, kein Wunder, nach der ganzen Scheiße. Wenn du mich fragst, wollte er sich mal richtig austoben und hat die schärfste aller Spielgefährtinnen geschaffen, eine echte Göttin.

‚Lasset uns Kinder zeugen‘, soll der lüsterne Mistkerl gesagt haben. Sie sind hart in die Kissen gestiegen, so dass Saanas Schoß ganze Legionen entsprangen. Adamas Erstgeborener war Gabriel, der gerechte Anführer, der im Namen seines Vaters alle Länder unter dem Gesetz vereint. Dann Raffael, Krieger, Heermeister, Gott der Kriegsführung und Eroberungen. Der bezaubernde Manuel steht für Gnade, Segen, Freude und Wohlstand. Irjael ist der Erbauer, berufen für Handwerk und Baukunst. Und schließlich die Zwillingsbrüder Anael und Adriel, der eine ein rationaler Philosoph und in der Weisheit begnadet, der andere ein Lyriker, Sänger und Maler, dem die schönen Künste besonders zugetan.

Als Adama schon keine Lust mehr hatte, sich fortzupflanzen und lieber seiner Leidenschaft frönen wollte, dem Jagen und Erlegen von Leviathanen, da schenkte ihm Saana einen weiteren Sohn und du kannst dir sicherlich denken, wen. Manche behaupten kühn, dass sie eigentlich Lucia hieß, ein Ebenbild ihrer Mutter, solche Zungen sind aber zumeist belegt von süßem Rauschkraut.

Adama beäugte nun seinen siebten und letzten Sohn, da fiel ihm auf, dass jener anders war - gebrechlich und schwach, mit dünnem Haar und blass. Zudem fiel ihm beim besten Willen nicht ein, mit welcher Gnade er ihn segnen sollte, hatte er sämtliche Gaben bereits vergeben.

Lucio entwickelte in jungen Jahren eine Neigung zu kranken, unvollkommenen Lebewesen und Dingen, die kaputt oder zerstört waren. Adama sah darin nicht etwa die Affinität seines Sohnes, Mitleid und Erbarmen zu empfinden, vielmehr deutete er dies als Schwäche.

‚Welche Stärke ist die deine, Sohn?‘, soll er sein Kind eines Tages gefragt haben.

‚Ich liebe meine Mutter.‘

Angeblich hat diese Antwort Adama zutiefst verstört. So ein Bastard, welcher Sohn sollte seine Mutter nicht lieben? Dem Spross setzte es zu, dass sein Vater ihn nicht akzeptierte. Daher lehrte ihn der einsame Schmerz des Heranwachsens kaltblütige Intriganz und heißes Rachegelüst.

An den Adamaehren, den gigantischen Festlichkeiten zur Huldigung der Göttlichkeit, vergaßen sie gar, ihn einzuladen. Als er doch auftauchte, musste er sich wie ein Bittsteller einreihen und kam zu spät, um seinen Eltern aufzuwarten. Verloren und verbittert trieb Lucio durch die Weiten. Und da schmiedete er ein Komplott mit dem Tod höchstselbst, der ihm die Macht gab, die Unsterblichkeit zu brechen, die allen Kindern Gottes innewohnte. Der Tod nahm sodann die Gestalt von Irnakus an und Adama konnte nicht widerstehen - er zog aus, den Leviathan zu schleifen.

Der Siebte trat indes zu Gabriel. ‚Was machst du da, Bruder?‘

‚Ich herrsche über alle Königreiche von Himmel und Erde, über Mann und Frau, über Feuer, Wind, Wasser und Stein.‘ Für eine Weile bestaunten sie nur wortlos die Weiten.

‚Sag mir eins, Bruder. Was liegt hinter deinen Reichen?‘

‚Nichts als die Unendlichkeit.‘

‚Ich frage mich, solltest du sie nicht ebenso regieren?‘

Damit erwachte in Gabriel der Wunsch, über die endlose Leere zu gebieten und es verzehrte ihn.

‚Was machst du, Bruder?‘

‚Niemand vermag sich mir jemals im Kampf, der Schlacht oder im Krieg zu widersetzen‘, sagte der geharnischte Raffael mit dem stählernen Zweihänder in Händen, hoch zu Ross.

‚Und doch frage ich mich, warum dir etwas Banales wie die Zeit wagt zu trotzen?‘

‚Weil nur die Ewigkeit der Zeit zu trotzen vermag.‘

‚Und warum hast du sie bislang nicht unterjocht?‘

So zog Raffael aus in seinem Feldzug gegen die Ewigkeit, bis zu jenem Tage, wenn sie schließlich endet.

Lucio suchte Manuel im Wassergarten auf und flocht dessen Locken. ‚So atemberaubend schön bist du, Bruder. Nur ein makelloses Juwel, vollendet im Schliff und gleißend wie das Sternenzelt, ließe dein Antlitz verblassen.‘ Bevor Lucio die Gärten verlassen hatte, blieb von Manuel nur eine regungslose Statue aus Diamant.

Irjael beriet sein Bruder beim Bau der mächtigsten Kathedrale zu Ehren des Vaters, mächtiger als die Fundamente der Erden sollte sie sein. Muss ich erwähnen, dass der Dom letztlich einstürzte und ihren Erbauer erschlug?

‚Weißt du alles?‘, fragte Lucio in der Bibliothek seinen schriftgelehrten Bruder Anael.

‚Ich würde sagen, ich weiß genug.‘

‚Wie kannst du sagen, du weißt genug, wenn du nicht alles weißt?‘

Selbstverständlich ist nur Adama allwissend, für Anael endete diese Ambition im Wahnsinn. Als der zartbesaitete Adriel vom Geistesverfall seines Zwillings erfuhr, schrieb er die Litanei der Trauer, verbildlichte sie im grauen Morgenhimmel und stürzte sich theatralisch vom Schiefen Felsen.

Lucio war nun noch der einzig verbliebene Sohn Gottes und der Weg frei zu seiner Mutter.«

»Ich kann mir denken, was jetzt kommt«, sagte Ila. »Bei uns waren Liebschaften in der Familie nicht ungewöhnlich. Der Vater legt sich zur Tochter, die Mutter zum Sohn, die NoÄ“ther waren da nicht so empfindlich wie euereins.«

»In der Welt unter Adama werden Menschen mit derartigen Neigungen radegebrochen. Doch was scherte es Lucio? Er war überzeugt, dass Saana ihn jederzeit seinem Vater vorziehen würde - immerhin teilte er seine Liebe mit unermesslich vielen seiner Geschöpfe, Lucio hatte nur für seine Mutter Platz im Herzen.

Als Saana ihn sah, erkannte sie ihr eigen Fleisch und Blut nicht wieder, gewachsen war er an Stattlichkeit und Selbstbewusstsein durch den Tod seiner Brüder. ‚Mein Sohn, was kann ich für dich tun?‘

‚Nein, Mutter, jetzt geht es nur darum, was ich für dich tun kann. Niemand kann sich mehr zwischen uns drängen. Nur wir sind noch übrig, Geliebte.‘ Er hatte sich an sie herangeschmiegt und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

‚Was meinst du, nur wir sind übrig?‘

‚Gabriel hat sich aufgelöst und Raffael ist fort. Manuel ist erstarrt, Irjael begraben. Anael hat sich verloren und Adriel sich umgebracht.‘

Mit jedem Wort trieb er den Stachel tiefer in ihr Herz und Saana erkannte, dass sie wirklich alle ihre Söhne verloren hatte.

‚Was ist mit Adama?‘, fragte sie kraftlos, doch Lucio lachte nur.

‚Ich habe einen Pakt mit Irnakus geschlossen. Gerade wird er Vaters Leib im Äurup ersäufen.‘

‚So sei es in der Wirklichkeit deines Kopfes, die du Heimat nennst.‘

Natürlich war er rechtzeitig zurückgekehrt, der große Held, und seine riesigen Hände glühten noch weiß von der Magma, mit der er Irnakus geblendet hatte.

Zum folgenden Geschehen gibt es unterschiedliche Deutungen. Geistesumnachtete Kultisten wie Schurenaz behaupten, Saana hätte den Konflikt zwischen Mann und Sohn nicht ertragen und sich selber die Venen geöffnet. In seinen Pamphleten war es ohnehin Adama, der alle und zuletzt Lucio aus Eifersucht getötet hatte. Wer bitte glaubt einem Wirrkopf, dem die Trottel barfüßig hinterherlaufen, und der die hunderttausend Seiten seiner Drápur im Irrenhort geschrieben hat?

Nein, Sternhagel singt, dass es Lucio war, der Saana erdolchte, auf den Lippen die Worte: ‚Wenn ich dich nicht haben darf, darf er es erst recht nicht.‘

Es kam zur Begegnung zwischen Adama und Lucio und endlich erkannte Gott das wahre Wesen seines Sohnes.

‚Vater, nun da ich alles bin, was dir bleibt, bist du letztlich doch bereit mich zu lieben?‘

Adama, der Barmherzige, nahm ihn in die Arme und drückte Lucio an seinen weißgelockten Vollbart, das erste und einzige Mal.

‚Nein.‘ Dann packte er den schmächtigen Abkömmling mit seinen muskelstrotzenden Armen und heißen Pranken und schliff ihn zum Äurup, in dessen Feuern bereits Irnakus verdammt war, in alle Ewigkeiten zu zappeln und zu brennen.

Und Adama schmiedete seinen Sohn mit gleißenden Qualen an die Flamme, bis zu dem Tage, an dem er Liebe und Mitleid für ihn verspüren und von dem Los befreien würde. Der Tag kam nie und also verführt der rastlose Geist Lucios derweil die Menschen zu Raffsucht, Verrat und Mord.«

»Das ist eine traurige Geschichte. Ein Vater, der den Sohn hasst, sollte sich nicht Vater nennen.«

»Du hast es nicht verstanden und wie solltest du, noÄ“thische Grazie? Adama ist der Inbegriff des Vaters. Ein Unterdrücker, der uns für Verfehlungen zur Rechenschaft zieht und Liebe selbst dem eigen Fleisch und Blut verwehrt. Zudem der Grund, dass ein Junge seine Mutter verlässt, um in der Welt draußen allein und hilflos seinen Mann zu stehen.«

Waylon hatte während der Erzählung seinen Kopf in ihren Schoß gelegt und sie spürte, wie er allmählich schwer wurde.

»Ist Lucio deswegen dein Gott?«

Es verstrich eine Weile, ehe er antwortete. »Ich bin der Sohn der Python, Liebes. Wieviel Liebe kann eine Schlange schon erübrigen?«

Sie strich ihm durch das Haar, bis sie den gleichmäßigen Rhythmus seines Atems vernahm. Ihre Gedanken schweiften ab und sie fragte sich, wie es wohl wäre, seine Frau zu sein, angesehen und wohlhabend, geächtet und gefürchtet. Ila gab sich für einen Moment der Vorstellung hin, doch sie verstand, dass er niemals Liebe für sie haben würde.

»Dein Herz ist bereits vergeben«, flüsterte sie.

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