Die Geschichte von Sonne und Mond
Schnaufend ließ Kryzov sein voluminöses Gesäß auf den mickrigen Schemel plumpsen und hievte den fleischigen Wanst hinterher. Der Mönch brauchte eine Weile, um sich zu sortieren und zu Atem zu kommen, während er umständlich den staubigen Einband auf seinem Schoß balancierte.
»Das kann ja heiter werden«, piepste ein Stimmchen und vereinzeltes Gekicher ertönte.
Kryzov zog die Brauen zusammen und musterte die kleine Kinderschar, die mit gekreuzten Beinen vor ihm auf dem Boden saß und ihn mit großen Augen anstarrte. Bei Lucio, lag ihm auf den Lippen, doch konnte er sich beherrschen. Innerlich verfluchte er Schwester Pia, die ihn im Keller erwischt hatte, wie er sich wieder einmal an dem Messewein vergehen wollte, und ihn daraufhin zur Lesestunde verdonnert hatte. Nun saß er hier vor einem Haufen undankbarer Rotzlöffel, während die Fruchtfliegen ihn umschwirrten, als wäre er ein Traubenkelter.
»Was lesen wir denn heute?«, ertönte die Kinderstimme mit frechem Unterton.
»Der rotbackige Ordensmann räusperte sich und schlug das brüchige Leder des Wälzers auf.
»Talon achthunderneunundvierzig der Analecta - «, blies er aus seinen Backen, doch weiter kam er nicht.
»Och nö«, stöhnte der kahlgeschorene Frechdachs in der ersten Reihe. »Nicht schon wieder der Fromme Küster. Ich will lieber was von Oran Osk hören, der ist viel, viel spannender.« Als hätte jemand ihnen ein geheimes Zeichen gegeben, brabbelten die kleinen Früchtchen allesamt gleichzeitig los und äußerten ihre Lesewünsche, so absurd sie auch sein mochten.
In Kryzovs Brummschädel richteten die penetranten Stimmen ein heilloses Durcheinander an, das er kaum ertragen konnte.
»Ruhe!«, brüllte er aus vollem Halse und die kleinen Strolche hielten eingeschüchtert inne.
»Dies ist eine Abtei des Heiligen Ordens und keine heidnische Taverne im Hügelland.« Sofort keimte in ihm der Wunsch auf, in einem Wirtshaus einzukehren, doch verscheuchte er den wenig hilfreichen Gedanken. »Wer sich an der Literatur stört, kann sein Leid gerne Schwester Pia und ihrem Holzpaddel klagen. Und wer mich nochmal unterbricht, kriegt den Hosenboden voll, dass er den Rest der Geschichte stehen muss.«
Missmutig ließ die kleine Bande die Köpfe hängen, selbst ihr Rädelsführer in der ersten Reihe hielt die Klappe.
Kryzov räusperte sich noch einmal inbrünstig und fing an: »Talon achthunderneunundvierzig der Analecta des Frommen Küsters - die Geschichte von Sonne und Mond. Am Midsommerabend über dem Tale Adranagāh, in dem schönsten Teile Ulthòrs, dem Lande Nafarìas und Reugars, wuchsen die Veilchen blau und die Lilien leuchteten rot. Die warme Luft war erfüllt mit schwerem Blütenstaub und duftete nach Honig, Blumen und Frühling. Die Kinder, so wie ihr, liefen über die grünen Wiesen und lachten und freuten sich des Lebens.«
Jetzt kicherten die Kinder, bis auf den frechen Glatzkopf, der nur mit den Augen rollte.
»Da verdunkelte sich auf einmal der Himmel, und es erschien Clobom. Clobom hatte, wie ihr sicherlich wisst, die Form einer riesigen, schwarzen Kugel. Es hatte nur ein einziges Ziel: Sämtliches Licht der Welt sollte sich in Dunkelheit verwandeln, und zu diesem Zwecke fraß Clobom es auf. Jedes Fragment verwandelte es in einen neuen Splitter seiner selbst, so dass sich auf seiner schwarzen Oberfläche alle Momente fingen, die es aufgefressen hatte. Auf Adranagāh hatte Clobom es besonders abgesehen, weil es wunderschön war und das Licht in vielen bunten Aspekten widerspiegelte.
Die Kinder fürchteten sich und flüchteten, und Königin Nafarìa betete inständig zu Adama, auf dass er Adranagāh vor dem Zugriff des Lichtfressers schützen solle.
Adama las gerade den jüngsten seiner sieben Söhne aus den Schriften vor, die er vor Äonen verfasst hatte. Anael gab dann später diese Worte an den Frommen Küster weiter, und Adriel schmiedete daraus jene Verse, die uns heute als Offenbarung Sternhagels bekannt sind.
Da erhörte Adama das Flehen Nafarìas und stieg aus dem Himmelreiche herab. Als er im Tal von Adranagāh angelangt war, betrachtete er zunächst grüblerisch und schweigend Cloboms anschwellende Aura.
Königin Nafarìa kam heran und sprach: 'Mein Herr und Fürst, ihr habt meine Gebete erhört. Bitte erlöst uns von der sich ausbreitenden Düsternis, die droht jedes Leben im Keime zu ersticken.'
Adama schenkte ihr keine Beachtung, denn sie war nur eine gewöhnliche Sterbliche, er hingegen der Gott der Götter.
Doch Clobom erwies selbst einem Gottvater keinen Respekt, und es stellte sich ihm entgegen. 'Adama, was willst Du hier?', brummte dessen Bass tief in Adamas Magengrube. 'Du hast dein eigenes Königreich. Adranagāh ist mein.'
'Kreatur des Schattens', erwiderte Adama und seine Stimme klang wie Donnerhall. 'Dein ist lediglich das Nichts, aus dem du bestehst.'
Adama rammte seine mächtigen, muskelstrotzenden Arme in den Erdboden und riss mächtige Felsbrocken heraus, die er auf Clobom niederregnen ließ, doch das Gestein verschwand einfach im Dunkeln. Adama entfachte einen Zyklon mit gewaltigen Wirbelstürmen, doch Clobom rührte sich nicht um die Breite eines Fingernagels. Adama beschwor schwarze Regenwolken und ein Meer aus Wasser stürzte auf die Dunkelheit herab, doch es fiel platschend durch sie hindurch.
Da wurde Adama zornig. Aus seinen Augen loderten Feuerbälle, und er ließ eine Armee aus Blitzen auf Clobom herniederfahren. Die pulsierenden, energetischen Entladungen konnten dem dunklen Feind jedoch ebenso nichts anhaben, geschweige denn ihn brechen. Und so fraß Clobom kurzerhand auch dieses Licht auf und nutzte es, um noch weiter zu wachsen und mehr von Himmel und Erde zu verschlucken.
'So, ein Gott sollst du sein', spottete es. 'Das einzige, was an dir göttlich ist, ist das Vergnügen, das du mir bereitest.'
Nafarìa hingegen war in ihrer Verzweiflung am Ende. 'Du kamst herab, um uns vor dem Ungeheuer zu retten, doch deine Felsen trafen es nicht, deine Winde bewegten es nicht, deine Wasser berührten es nicht. Und deine Blitze und Flammen haben dem Phantom nicht geschadet, nein, sie nährten es sogar und stärkten seinen Wuchs. Ich verfluche den Tag, an dem ich auf die Knie sank, um dich zu bitten.'
Immer noch schenkte Adama ihr keine Beachtung. Sein Fokus richtete sich felsenfest auf den Feind. Er zog ein Band eng um die Stirn und stapfte auf Clobom zu.
'Was hast Du nun vor?', höhnte es. 'Möchtest Du mich niederringen, hm?'
Als Adama die schwarze Kugel erreichte, kraxelte er darunter und stemmte sie kurzerhand hoch.
Unter dem Gelächter Cloboms trug er es zur hohen Treppe von Elwaíjonah. Elwaíjonah, der Bildhauer, erbaute die Treppe vormals, um Adama im Himmelreiche zu besuchen, starb aber vor ihrer Vollendung und mit ihm sein Wahnwitz. Die Bruchstücke jener Treppe stehen noch bis zum heutigen Tage an jener Stelle in Claìth. Wie dem auch sei...«
»Wie kann denn Adama die Kugel zu greifen bekommen, wenn sie sonst nichts berühren kann?«, fragte der Naseweis in der ersten Reihe neunmalklug. »Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn.«
»Er kann es, weil er der Gott der Götter ist. Und wenn du mich noch einmal unterbrichst, berührt die Gertenrute gleich dein Hinterteil, bis auch du es verstanden hast.« Kryzov sammelte sich.
»Wo waren wir, ach ja... Adama hievte sich mit Clobom auf seinem Rücken die Treppe von Elwaíjonah empor. Ob seiner Last ächzend war er froh um seinen Einfall, sich ein Tuch um den Kopf gebunden zu haben, sonst wäre ihm schlichtweg der Schädel geplatzt. Stufe für Stufe kletterten sie also nach droben, immer höher und höher. Irgendwann erreichten sie das Himmelszelt und gingen sogar darüber hinaus.
Clobom wurde immer maßloser und begann das Licht der Sterne zu fressen, so dass von ihrem hellen Schein nur winzige Punkte blieben. Es selbst hingegen wurde riesiger und riesiger und breitete sich allmählich über das gesamte Himmelsgewölbe aus.
'Du bist ein wahrlich großzügiger Gott', lachte Clobom schließlich, nachdem es das Firmament in tiefschwarze Leere verwandelt hatte. 'Welch Festmahl du mir bereitet hast. Ich fühle mich größer und stärker denn je.'
'Das mit der Größe lässt sich nunmehr nicht leugnen', entgegnete Adama gelassen. 'Doch mir scheint, je größer du auch wurdest, desto dünner ward dein Körper, ähnlich einem ausgerollten Teig.'
'Du redest wirr, Adama', antwortete Clobom.
'Lass uns sehen, ob ich recht habe', sagte der Gott. 'Friss mal das hier.'
Adama griff in die eigene Brust und holte sein schlagendes Herz hervor, das heller leuchtete als alle Lichter der Welt zusammen. Es hatte die Form eines blendenden Balls und pulsierte und strahlte so grell, dass Clobom aufschrie und nun selbst gefressen wurde. Adama hing sein gleißendes Herz an den Himmel wie einen Mantel an den Kleiderhaken.
Als er die Treppe von Elwaíjonah hinabstieg, sammelte sich das Volke zu seinem Fuße und betete ihn an. Unter ihnen waren auch Königin Nafarìa und König Reugar, die vor dem Gotte im Staub knieten.
'Ich danke dir, Vater', preiste ihn Nafarìa. 'Ich danke dir für deine Gnade und Barmherzigkeit. Wir geloben dir Treue und Ergebenheit für alle Zeiten, Herr.'
Da zürnte Adama ihr und wandte sich Nafarìa zu. 'Nun, da das Dunkel geschlagen ist, sind deine Worte süß wie Honig. Denkst du, deine Zweifel wären mir entgangen? Wer denkst du, bin ich? Ein Narr?'
Nafarìa wusste nicht, was sie sagen sollte, so stark war die Scham in ihr.
'Nun denn', sprach der Gott nach einer Zeitlang des unangenehmen Schweigens. 'Clobom ist geschlagen, doch vernichtet habe ich ihn nicht. Sonnt euch in der Herrlichkeit meines Herzens, doch als Sühne für deinen Unglauben, Nafarìa, sollen du und die deinen jeden Tag aufs Neue in Dunkelheit und Kälte klappern.'
Und so schuf Adama Tag und Nacht. Den Tag mit dem warmen Schein seines Herzens als Zeichen seiner Liebe und Güte. Und die kalte, unheimliche Nacht als Mahnmal, sich niemals von Adama abzuwenden. Als Zeichen der Nacht hinterließ Adama die verstörende Fratze Cloboms. Auf dem schrecklichen Antlitz trug es den Schrei des Entsetzens, der stobend aus dessen Schlund entfleucht war. Die Augen tränten noch von jenem Moment, als es Adamas Herz erblickt hatte, und nun leuchtete Clobom selbst von dem lodernden Schein.
Und Adamas Herz nennen wir heute Sonne, und Cloboms Fratze ist der Mond, dessen furchteinflößender Anblick nur selten in seiner nackten Vollkommenheit zu erblicken ist, ein weiteres Zeichen Adamas grenzenloser Liebe zu uns.
Doch das Tal von Adranāgah nahm Adama an sich und schenkte es seinem ältesten Sohne Gabriel, auf dass dieser dorten nach seinem Gutdünken über die Menschen herrsche. Dies war die Strafe für König Reugar, denn Adama verzieh es ihm nicht, dass er sein Weibe nicht bändigen konnte oder sie zur Räson rief, als diese ihre Gebete verflucht hatte.
Und so zittern und klappern wir jede Nacht in dem Wissen, dass die Dunkelheit uns zu verschlingen trachtet und loben und preisen jeden neuen Tag, an dem uns Adama wieder von der Finsternis rettet, und uns mit dem Licht und der Wärme seines Herzens segnet. Und so endet die Geschichte von Sonne und Mond, von Tag und Nacht, von Licht und Schatten, von Adamas Segen und Fluch.«
Erleichtert schlug Kryzov das Buch zu und blickte zufrieden in die staunenden Kinderaugen.
»Und nun rasch zu Schwester Pia. Wie ich hörte, braucht sie Hilfe beim Jäten des Sauerampfers.« Lauter Jubel brandete auf und die Kinder stürmten durcheinander in den Garten.
Gerade wollte Kryzov sich von dem Schemel ächzen, als er bemerkte, dass der Dreikäsehoch
sich nicht bewegt hatte, sondern ihn ungerührt anstarrte. »Wa- Was?«, fragte er verwundert.
»Wie kann Adama bitteschön ohne sein Herz leben? Und wenn er es nicht zum Leben braucht, warum hatte er denn überhaupt eins?«
»Ich - ähem...«, stammelte Kryzov ratlos. »Der Fromme Küster lehrt uns...«
»Und dann nimmt er dem König das Land weg, als Strafe für seine ungehorsame Frau. Der König war doch die ganze Zeit ein Taugenichts. Sinnvoller wäre es, wenn Adama ihn dafür bestraft hätte. Die Geschichte ist dumm.«
Kryzov kniff die Augen zusammen und dann dämmerte es ihm. »Warte mal, du bist ein Mädchen, oder nicht?«
»Na und, was macht es für einen Unterschied?«, entgegnete das Gör trotzig. »Und überhaupt, Adama hat sieben Söhne, warum nicht eine einzige Tochter?«
»Weil er nicht wollte, dass ihm ein unverschämtes Balg den letzten Nerv mit trotzigen Fragen raubt.«
Sie streckte ihm die Zunge raus.
»Und jetzt ab zu den anderen. Ich habe im Keller zu tun.«