
Das Schwarze Kleeblatt
Gewinner des Schreibwettbewerbs Januar/Februar 2023 - Fantasy-Geschichten-Forum
Sanft wehte der Wind über den Asphalt und ließ den Staub im trüben Fackellicht tanzen. Nach Einbruch der Nacht traute sich das lichtscheue Gesindel zaghaft auf die Straßen und er selbst war keine Ausnahme.
Rywin Or schlug den Kragen seines dunkelgrauen Mantels hoch und zog den Saum der Kapuze tiefer, nicht etwa weil es ihn fröstelte - im Gegenteil, der späte Abend war lau und warm und ein Überwurf eher unangenehm. Was den Aufzug unentbehrlich machte, war die Möglichkeit sich tief darin zu verbergen und vor unliebsamen Blicken zu schützen.
Nachdem er die Gewinne der Kampfwetten nicht ausgezahlt, sondern sich vielmehr unter den Nagel gerissen hatte, wurde Rywin augenblicklich von einem gefragten Buchmacher zu einer verbrannten Seele. Mein ganzes Leben ist in die Binsen gegangen wegen den verdammten Kröten. Nie wäre er auf die hirnrissige Idee gekommen, wenn Sydynot ihn nicht dazu angestiftet hätte. Wer bin ich schon im Gegensatz zu ihm? Nur ein kleines Licht, ein winziges Rädchen im Getriebe.
Seit Rywins Inhaftierung durch die Stadtwache hatte er von niemandem mehr gehört. Noch bevor er etwas über seine Spießgesellen hätte preisgeben können, wurde er von den Wachleuten unerklärlicherweise wieder laufen gelassen. Seither versteckte er sich in einer der unzähligen, verwinkelten Herbergen des Viertels. Dort bunkerte er das unterschlagene Geld, das Faustpfand für sein Leben, seinen einzigen Trumpf.
Er hatte vor, das Viertel zu verlassen, doch würde dies einiges an Vorbereitung bedeuten. Und das hieß, sich vorsichtig wieder unter Menschen zu wagen. Rywin merkte, dass es ihm nicht leicht fiel. In jeder Gestalt, die seinen Weg kreuzte, sah er eine Gefahr, einen verprellten Gläubiger oder einen finsteren Zeitgenossen, der ihn zum Schweigen bringen sollte.
Daher atmete er erleichtert auf, als er am Ende der Gasse das wippende Schild der Nebelkerze erblickte. Schleunig lenkte er seine Schritte die gewundene Treppe hinab und wollte eintreten, als ihm die Tür von innen entgegenschlug. Ein kahler Kerl mit Schweinsgesicht prallte beinahe in ihn hinein.
„‘schuldigung“, grunzte der andere. Auf einmal blickte er drein, als hätte er einen Geist gesehen.
Hat er mich erkannt? Ohne weitere Notiz von ihm zu nehmen, ging der Mann die Treppe hoch und ließ ihn ratlos zurück. Rywin wollte schon umkehren, doch konnte er einen Blick in die heimelige Gemütlichkeit des Schankraumes erhaschen und der Versuchung nicht widerstehen. Einen Becher nur, dann bin ich wieder fort.
Zögerlich betrat er die urige Spelunke, die selbst um diese Zeit nicht übermäßig besucht war. Er sah sich kurz um, und da er keine offensichtliche Gefahr feststellte, schritt er schnurstracks zur Theke.
Rywin nahm auf einem Hocker Platz und bestellte bei dem bierbäuchigen Gastwirt einen Becher Wermut. Erleichtert atmete er auf, als der Wirt ihm wortlos das Getränk vor die Nase stellte und sich sogleich dem Reisegrüppchen auf der anderen Seite des Tresens zuwandte.
Er lüftete seine Kapuze ein wenig, so dass seine dunkelroten Strähnen zum Vorschein kamen. Hiernach nahm Rywin einen Schluck und genoss den bitterherben Geschmack von Anis und Salbei auf der Zunge. Neugierig blickte er sich um und stellte beruhigt fest, dass alle Gäste mit ihren Angelegenheiten beschäftigt schienen. Es tut gut, wieder unter Menschen zu sein. Gleichmütig folgte er dem Kartenspiel zweier bärbeißiger Gesellen.
Die Tür in seinem Rücken schwang geräuschvoll auf und ein Luftzug ließ die Kerzen flackern. Noch bevor er sich umdrehen konnte, verspürte er eine einnehmende Präsenz zu seiner Linken, eingehüllt in Aromen von Lavendel und Nelke. Eine hochgewachsene Frau trat neben ihn an den Tresen und gab einen Wacholderschnaps in Auftrag.
Rywin kam nicht umhin, sie zu bewundern. Jetzt erst wurde ihm bewusst, wie zutiefst er die bezaubernde Gegenwart weiblicher Gesellschaft vermisst hatte.
Sie trug kniehohe Lederstiefel und ein tailliertes Hemd unter einem Umhang aus dunkler Schafswolle, auf den ihr glattes Haar hinabfiel, schwarz wie Brombeeren. Er stutzte, als er den kleinen Anstecker aus Emaille an ihrem Revers entdeckte, in demselben Farbton.
„Was ist das?“, sprach er sie unverblümt an, bevor er sich auf die Zunge biss. Hast du den Verstand verloren?
Leicht neigte sie ihren Kopf und musterte ihn von oben herab. „Ein Kleeblatt“, antwortete sie abschätzig.
„Ja, aber... warum ist es schwarz?“ Verdattert stellte er sich selber die Frage, warum er die Konversation immer weiter trieb.
Jetzt drehte die Fremde ihren Körper ein Stück und legte den Ellbogen auf das Holz.
Rywin merkte, wie das Blut in seinen Kopf rauschte, so betörend war ihre Gegenwart.
„Wer will das wissen?“
Rywin Or, hätte er fast gesagt, ganz soweit war sein Verstandesverlust glücklicherweise nicht fortgeschritten. „Ich... ich komme aus der Gegend.“
Sie nickte und ihre jadegrünen Augen hafteten auf den seinen. Er ertappte sich dabei, wie ihm der Mund offenstand.
„Ich habe mein Quartier im obersten Stock des Nachtblind, ganz in der Nähe.“ Hast du das gerade wirklich gesagt? Anscheinend war die vage Hoffnung, sie dorthin mitschleppen zu können, größer als die Vernunft, die das Vorhaben als reinen Schwachsinn entlarvte.
„Und ihr seid?“, versuchte er das Gespräch auf sie zu lenken.
„Durstig.“ Sie stürzte den Schnaps mit einem Zug hinunter und verlangte nach einem zweiten. Sodann wandte sie sich ab und ignorierte ihn gänzlich.
Rywin war in seiner Peinlichkeit befangen, hatte jedoch das unstillbare Verlangen, sich weiter mit ihr zu unterhalten, immerhin war der Anfang bereits gemacht.
„Das Kleeblatt?“
„Hm?“
„Ihr wolltet mir doch erklären, warum das Kleeblatt an eurer Kluft schwarz ist.“
Erneut drehte sie sich zu ihm und sah nicht sonderlich erfreut aus. Aber wunderschön dennoch.
„Wollte ich das? So?“ Nach einer unangenehmen Pause verzog sie schließlich das Gesicht und erbarmte sich seiner. „Gut, ihr wisst sicherlich, was über das gemeine Kleeblatt gesagt wird? So eines mit vier Blättern?“
„Dass es Glück bringen soll, natürlich.“
Sie nickte. „Als ich zwölf Jahre alt war, habe ich mal eins zwischen dem Unkraut auf dem Marktplatz aufgelesen. Ich habe es in mein Knopfloch gesteckt und stolz meinem Vater gezeigt.“ Sie tippte auf ihre Anstecknadel. „Wir machten uns auf den Weg nach Hause, da haben wir schon von fern die Rauchsäule bemerkt, die zum Himmel stieg. Ein Schwelbrand ist in unserem Stall ausgebrochen und vierzehn Ziegen sind dort elendig verreckt. Ihr könnt euch die Sauerei nicht vorstellen, aber mein Vater hat nur laut gerechnet, wie hoch der Verlust war, den es für ihn bedeutete.“
Sprachlos, wie ein abgerichteter Hund, nickte Rywin und klebte an ihren Lippen.
„Als nächstes trafen wir auf eine unserer Mägde, in Tränen aufgelöst. Sie war einst die Amme meines Vaters. Jetzt zeigte ihr Handrücken Spuren der Blattern.“
Rywin drückte sein Mitleid aus, indem er entsetzt den Kopf schüttelte.
Unbeteiligt fuhr sie fort. „Zuletzt kam ein Bote von den Käfigen und berichtete, dass ein Bulle meinen Neffen totgetrampelt habe. Mein Bruder und der einzige Sohn meines Vaters hat sich an Ort und Stelle das Leben genommen.“
„Aber das... das ist ja schrecklich.“
Ein zynisches Lächeln umspielte ihren Mundwinkel. „Das fand mein Vater auch. Aber anstatt zu trauern, zu schreien oder sich das Hemd zu zerreißen, hat er seelenruhig auf das Blatt gezeigt und gesagt, dass ich die alleinige Schuld trage. Ich hätte einen Glücksbringer in das dämonische Totem des Todes verwandelt.“
Ihre Geschichte ist furchtbar, aber allein, dass die Schönheit sie mir erzählt, macht sie süß wie Honig.
„Also habe ich das Kleeblatt in das nächste Pechfass getaucht, bis es aussah wie meine Nadel hier. Ein Unglücksbringer, der den Menschen Unheil und Verderben bringt.“ Sie winkte ab. „Ob ihr an derlei Dinge nun glaubt oder nicht, jetzt wisst ihr‘s.“ Sie drehte sich wieder zum Tresen, auf dem zwischenzeitlich ihr Becher angelangt war.
„Wisst ihr, euer Vater war durchaus in Trauer“, brach Rywin das Schweigen. „Jeder, der ein Kind verliert, trauert auf eine Weise. Er hat es nicht so gemeint, glaubt mir.“
„Doch, das hat er. Er hat es so gemeint, weil es ihm nichts bedeutet hat.“ Gleichgültig erhob sie ihren Becher und warf ihm einen kalten Blick zu. „Ihr wisst das.“
Ein Schauer jagte über seinen Rücken. „Wa - was?“, fragte er unbeholfen, da er nicht wusste, worauf sie hinauswollte.
Allmählich dämmerte ihm ein Ereignis, dass sich vor Jahren im Viertel abgespielt hatte. Ein Stier hat im Kampfkäfig Carynot Uyulet getötet. Sein Vater Hyrenot hat sich daraufhin umgebracht. Und dessen Vater war...
„Wer - “, krächzte er mit staubtrockener Kehle. „Wer ist euer Vater?“
„Uyulet“, sagte sie ungerührt und kippte sich den Inhalt des Bechers in den Rachen. „Sydynot Uyulet.“
Ich bin aufgeflogen. Er purzelte vom Hocker und stürzte Hals über Kopf in Richtung Tür. Der Wirt brüllte wegen der unbezahlten Zeche hinter ihm her, in Panik stürzte Rywin aber bereits aus dem Lokal. Binnen weniger Herzschläge hatte er die Treppe genommen und floh in die dunkle Nacht des Viertels.
Er hat mich gefunden. Warum lebe ich noch? Noch während er sich die Frage stellte, fiel ihm der Grund ein. Aus Angst vor Verfolgern lief er einen weiten Bogen, rannte im Zickzack durch Gassen und Gässchen, kletterte auf ein Dach, rutschte durch einen Schacht und kämpfte sich durch den Morast einer Sickergrube, bis er die Herberge von der anderen Straßenseite erreicht hatte.
Der Empfangsbereich war dunkel und unbesetzt, so schlüpfte er unbemerkt hinein.
Rywin schlug die Zimmertür hinter sich zu und verriegelte sie zur Sicherheit. Er keuchte bei dem Versuch, das Stechen aus seiner Seite zu drücken und sein Herz schlug ihm bis zum Halse.
Ich habe nicht viel Zeit, wenn ich aus der Sache noch herauskommen will. Vorsichtig machte er vier Schritte auf den Tisch vor der Fensterlaibung zu, dann drei Schritte nach rechts, bis der Boden unter seinem Fuß knirschte. Die Bodendiele ließ sich mit leichtem Ruck zur Seite bewegen und aufdrücken, und zum Vorschein kam ein kleines Säckel mit den wertvollsten Münzen der Stadt. Zufrieden steckte er es in seine Manteltasche und wollte bereits die Stube wieder verlassen, als sein Blick auf den Tisch vor dem Fenster fiel. Wie in einem Bann trat er auf ihn zu, bis er erkannte, was dort auf dem Holz lag. Die Verwirrung, die er empfand, übertraf nur der nackte Schrecken.
Das schwarze Kleeblatt.