Die Geschichte von Leben und Tod
Der gellende Schrei klang wie eine quietschende Türangel. Das kleine Schäfchen trat aus, traf jedoch nichts als Leere.
Oljus hielt den Hals fest umschlossen und grunzte inbrünstig. »Irhatodi, wir kamen vom Schwarz.« Aus Leibeskräften bäumte sich das Tier auf, bis das Weiß im panisch zuckenden Augapfel hervortrat. Unnachgiebig hielt der bärtige Kuttenträger die Kehle des Lammes entblößt, so dass seine Augen ebenso aussahen - aufgerissen, wild, entrückt. »Arihatodi, darben im Schmerz.« Er zückte eine scharfe Schneide, die gnadenlos im Fackellicht glänzte. »Unawathatodi, enden als Schmutz.« Dann riss er die weiche Hautfalte an der Gurgel des Tieres in Fetzen und warmes Blut sprudelte heraus wie ein Gebirgsbach im Sonnenuntergang.
Der rote Saft besudelte den blassen Jungen in Ritas Armen, der sich nicht rührte.
Oljus grölte und riss am Kopf des verreckenden Lamms, dessen Herzschlag den blutigen Quell verstärkte, bis er allmählich abebbte und schließlich versiegte. »Irhatodi, Arihatodi, Una - «
»Er ist tot«, flüsterte Rita, doch laut genug, dass der Bärtige innehielt. Sie war ebenfalls von Kopf bis Fuß mit dem Nass besudelt und verklebt, dass nur noch zwei weiße Skleren voller Verzweiflung zwischen den roten Massen hinausstierten. »Es war vergebens.« Ein Schluchzen ertönte unter den Schichten roter Suppe, die träge begannen, zu festem Talg zu trocknen.
Oljus schmiss die Überreste des Kadavers fort und blickte sie aus schuldschweren Augen an. »Warum?«, fragte sie vorwurfsvoll. »Er war doch nur ein kleiner Junge. Warum?« Ihre Stimme versagte und Rita entwich ein bitterliches Schluchzen, als sie das leblose Körperchen in ihren Armen an sich drückte.
»Ja, Herr - warum hat Lucio das zugelassen?« Die Stimme kam von der anderen Seite der flackernden Kammer, wo sich die anderen Jünger versammelt hatten - barfuß und in schäbiger Jute. »Lucio gebietet nicht über den Tod«, erklärte Oljus. »Er kann ihm nur zureden, ihn befrieden, beschwören, wenn unsere Anbetung den Herrn in der Flamme erreicht.« Er seufzte schwer. »In der Alten Heimat, in Hadalphi, wo Epistoklepates die Offenbarung mit bloßen Fingern in den Stein geschrieben hat, ist die Macht stärker und Lucio erhört die Gebete seiner Jünger. Hier herrscht zuviel Frevel.«
»Es tut so weh«, jammerte Rita und sie alle spürten ihren Schmerz. »Wieso tut es so weh?« »Herr«, meldete sich ein besonders häßliches Exemplar seiner Anhängerschaft zu Wort. »Wieso musste Ulrich sterben?«
»Bei Lucio!«, stöhnte Oljus und sie versammelten sich um ihn. »Ihr wollt sie also? Die Geschichte vom Tod? Ihr sollt sie haben.« Er riss die nassen Hände empor, denen die ehrfürchtigen Blicke der pickeligen Burschen und verschüchterten Mädchen folgten, und offenbarte ein blutbeschmiertes Lederbuch. Die vergilbten Seiten raschelten porös, als Oljus sie aufschlug und sabbernd zu rezitieren begann: »Idime erwachte aus der Starre der Jahrmyriaden, nichts weiter als ein Augenblick für den Vater, und begann die Schöpfung, wie er sie ergrübelt hatte.
Allkosmos war alles und beherrschte die Masse, bis Idime ihn mit dem Wort verdrängte und den Hohlraum kreierte.
Baraxos war der erste, der Existenz innerhalb des Raumes band - Idime zog aus und bezwang ihn. Der Vater gewährte ihm festzuhalten, jedoch dürfe er nicht verschlingen. So enstand die materielle Wirklichkeit.
Als er Kronizoz mit einer List dazu bewegte, hinter den Spiegel zu blicken, schuf er in dessen Rücken die Zeit.
Nun, da die zeitliche Existenz entstanden war, reute es Idime im Herzen, dass die Weiten leer und reglos vor ihm lagen. So machte er die Pflanzen, Pilze, Würmer, Tiere - am Himmel, in der Tiefe, dem Erdboden und darunter. Aber es gefiel ihm nicht.
Um Leben zu schaffen, musste er die Leblosigkeit verdrängen und ihr Gebieter war der Tod. Da der unwillig war, seine Macht aufzugeben, aber von dem Schicksal der Übrigen wusste, die Idime getrotzt hatten, ging er mit dem Vater eine Vereinbarung ein. Tod würde Leben für eine endliche Zeit lassen, bis er es sich schließlich würde einverleiben dürfen.
Sodann schacherte Idime mit dem Brandmeister um die Seelen, die dieser nutzte, um sein Heim zu wärmen. Der Vater gebrauchte sie für den Zenit seiner Schöpfung - Menschen.
Und so gedeihte das Leben in Erden, bis zu jenem Moment, da die vorgegebene Zeit erreicht und der Tod Besitz ergreifen konnte. Gleichgewicht herrschte - Junge wurden geboren, Alte starben und es wurde zum gewohnten Gang in der zeitlichen Sphäre.
Nun begab es sich, als der Vater der Kurzweil frönte, Kometen in das Firmament zu schleudern, da ihn Kunde von Zaaza erreichte, seiner Geliebten. Sie berichtete von Gebeten, die an ihr Ohr drangen - Gebete tausender, abertausender Kehlen, stöhnend unter dem Joch verfrühten Ablebens geliebter Menschen und vom Schmerz, den es mit sich trug.
Dies machte Idime stutzig und er horchte dem Sternenwind. So nahm er Kenntnis von Irnakus, der Idime im hellblauen Meereshimmel der Ewigkeit aufwartete.
Die Gestalt des Leviathans war menschlich und gewandet in schwarze Roben. ›Idime‹, begrüßte er den anderen, wie einen alten Freund. ›Du suchst mich auf?‹
Der Vater schritt über das Gewässer hin zur adretten Gestalt und krümmte seine Finger. ›Du weißt, warum ich hier bin?‹
›Lass uns reden unter Gleichen‹, antwortete Irnakus. ›Du bestimmst über Leben und ich über Tod. Warum teilen wir die Macht nicht? Gewähre mir mehr vom Leben, ich erwidere es dir im Tod.‹ Die schwarzhaarige Gestalt tippte ihre aschfahlen Fingerkuppen aneinander. ›Kürze die Dauer der Menschen Jahre, mehre sie in den ewigen Wassern. Vergrößere das Jenseits meines Reiches und verkünde deine Göttlichkeit. Menschen sollten sich ihrer stets vergegenwärtigen, so leicht sind doch ihre Herzen zu verlocken.‹
Doch Idime knirschte mit den Backenzähnen. ›Denkst du, darum bin ich hier? Um zu feilschen? Denkst du, deine Worte können mich umgarnen und bezirzen? Wer denkst du, bin ich? Ein Narr?‹ Ein Lächeln zuckte in Irnakus’ Mundwinkel.
›Kreatur, beende deine Maskerade!‹
Ein kalter Orkanwind fegte über das Blau der Weiten und nahm ihm die Farbe. Die Trübe des kalten, schwarzen Nichts erwachte und der Vater steckte bis zur Hüfte in einem See aus Schädeln. Von der menschlichen Gestalt waren nur die Roben geblieben - zerschlissen hingen ihre Fetzen am weißen Knochenkorpus herab. Mitternachtsschwarze Höhlen starrten Idime aus einem Totenschädel an, dessen bleiches Antlitz durch die Dunkelheit schimmerte. ›Besser, O großer Allvater?‹ Irnakus setzte sich auf seinen Thron aus weißem Skelett und schaute auf den Vater herab. ›Ich weiß, warum du hier bist, Idime. Aber dein Irrtum verdammt deine Taten zur Schande.‹
›Mein Irrtum? Wie kannst du es wagen? Weißt du nicht, dass ich allwissend bin?‹
Der Tod legte den Kopf schief. ›So?‹, fragte er und seine Kieferknochen klackten. ›Allwissender nennst du dich, doch siehst nicht, was geschieht.‹ Er ließ die Worte wirken, bevor er weitersprach: ›Oder willst du es nicht sehen?‹ Das Klackern von Knochen, die auf Knochen tippten, erklang, als Irnakus seine Fingerspitzen auf einer Schädeldecke spielen ließ. ›Das Elend, das deine Menschen verursachen - den Schmerz, den sie verbreiten - die Plage, die sie geworden sind für Erde. Ich kann es sehen - o ja, Idime, ich sehe es. Ich sehe, wie Stolz ihre Herzen verführt - wie ihre Herren deine Diener mit Leiden strafen. Flehen die gequälten Seelen in jenen Momenten zu dir? Ich bin es, der ihnen Erlösung bringt. Ich verdamme den Hochmut der Herren, in dem ich sie vom Erdboden tilge. Ich sehe, wie Missgunst um sich greift, Reichtum Armut hervorbringt, Unzucht sich am Schwachen vergeht, wo Völlerei und Trägheit herrscht. Ich sehe die Sünde und soll tatenlos warten, bis ihre Zeit gekommen?‹«
»Meister, wo rührt die Sünde der Menschen her?«
Als hätte ihn eine Ohrfeige aus einem Traum geweckt, funkelte Oljus den Jüngling an. »Wir alle werden gewahr, wie die Ketzer freveln und gotteslästern. Wollen unseren Herrn bezichtigen ob des Elends in Erden. Was sagt die Schrift?« Er haute mit solchem Eifer auf den Einband, dass Blätter zu Staubwolken stoben und der Jüngling mit dem Flaum unter den Nasenhaaren zusammenzuckte und rot anlief. »Der Prophet lehrt, unsere Fehlbarkeit stammt von jenem, der uns erschaffen hat.
›Grausame Menschen schaffen grausame Werke. Wer jedoch schuf die Grausamkeit außer die Grausamkeit selbst?‹
›Du brichst den Eid, den du mir gabst für Heuchelei?‹, spottete Idime. ›Nun, wahrlich ist offenbar, wer der Narr ist.‹
Ein Laut der Entrüstung entwich dem Totenkopf. ›Du beleidigst mich? Du kommst in mein Reich - in die zeitlose Unendlichkeit und verhöhnst mich? Ihren Herrn? Bist du wirklich so überheblich? Wenn ich will, kann ich mir das bisschen Leben, das sich auf deinem Flecken da oben tummelt, jederzeit nehmen. Die Frage ist, lässt du mir stattdessen das Richtschwert? Komm. Alles was ich will, ist dein Einverständnis.‹
Idime ballte seine Fäuste, so dass ihr Knacken deutlich zu hören war. ›Der Flecken da?‹, fragte er, bemüht, seinen Zorn im Zaum zu halten. ›Du hast ihn gesehen?‹
Der Totenschädel neigte sich wieder zur Seite.
›Habe ich mich nicht klar ausgedrückt? Kreatur, beende deine Maskerade!‹
Irnakus entfuhr ein störrisches Zischen.
Da rauschte ein Strom glühender Hitze heran und die Schädel und Knochen fingen Feuer. Binnen Augenblicken verschmolz ihre Umgebung zu einem pulsierenden Lavasee, in dem Idime bis zum Hals steckte. Dort, wo gerade noch das Skelett in der Robe gethront hatte, waberte ein unförmiger Fleischberg. Ein sich windender Fühlerkranz umrahmte den absurd riesigen Augapfel zwischen aufgespreizten Lidern und verbogenen Wimpern.
›Ja, ich sehe alles‹, entfuhr es einem Schlund, tief und verzerrt. ›Alles Leben, was sich meinem Blick nicht entziehen kann, gehört mir. So wie auch deins, Idime.‹ Eine feuerrote Pupille gleißte inmitten der im Schwarz gebetteten Linse auf und beäugte den Vater aufgeregt. ›Gerechtigkeit bin ich. Ich verdamme den hochmütigen Herrn, indem ich ihn vom Erdboden tilge.‹
Als die heißen Fluten Idimes Kopf verschlangen, triumphierte der Tod angesichts seiner Allmacht.
Das Auge wollte sich nun wieder seinem Entzücken, dem Menschen, widmen, da erschall ein Rumoren aus der Tiefe.
›Wie ist das nur möglich?‹ rätselte Irnakus. ›Alleinig ich bin ewig und unendlich.‹
›Was sollst du sein, wenn nicht eine Kreatur des Lebens?‹ Idime sprengte die Fesseln der Glut und entstieg der Magma. ›Wie gedenkt Nichts über Alles zu herrschen?‹ Die Hände trümmerten mit solcher Urgewalt auf die Oberfläche, dass der Erdensee bebte und geborstene Splitter durch die Luft flogen. ›Ich alleine bin unsterblich und unbesiegbar, deine Macht endet an meinen Fäusten.‹
Fassungslos musste Irnakus nun seinem Schicksal entgegensehen. Der Vater ergriff das Auge und blendete es in der brodelnden Lava, bis es völligst erblindet war. Dann ließ er den kreischenden und zappelnden Leviathan in der Ewigkeit zurück und schritt davon. Idime verließ den Äurup …«
»Idime ist Adama …« Der vorlaute Jünger bekam den Einband so hart zu spüren, dass seine Knollnase aufplatzte wie ein rohes Ei.
»Er war es«, sagte Rita leise, dass alle innehielten und sie gebannt anstarrten. »Der Vater hat den Tod geblendet. Nun sieht er nicht mehr, wen er von Erden tilgt. Seine Willkür hat mir Ulrich genommen.« Sie drückte den Kopf des toten Jungen an ihre Brust, die Augen waren zu hasserfüllten Schlitzen verengt.
»Sie spricht wahr«, ergiff wieder Oljus das Wort. »Idime war es. Er entmachtete Irnakus, in dem er ihm das Augenlicht nahm. Seither wütet der Tod auf Erden wie ein rasendes Tier und greift wahllos um sich. Einzig unser Herr, der dort mit ihm lodert, vermag die Endgültigkeit leiten und zähmen.« Bedauernden Blickes bedachte er Rita. »Hin und wieder.«
Dann flammte wieder der lodernde Eifer auf in Oljus’ Augen. »Doch sagen sie, betet und bittet Lucio um Gnade? Nein! In den Staub sollen wir uns werfen, huldigen, demjenigen Vater, der uns dieses Joch auferlegt hat.«
Erste Rufe ertönten aus dem Haufen und Jünger ballten entschlossen ihre Hände.
»Niemals sage ich. Niemals beten wir zu diesem Götzen, diesem Tyrannen, Schädling. So lehrt es uns der Glaube, der Eid, der Schrei, die Litanei.«
Wutentbrannt skandierten sie Parolen, schmierten Schafsblut in ihre Gesichter und stampften mit den Fußsohlen.
»Wir bringen die Fackel des Glaubens tief in das Herz der Ketzerei und lassen die Feuer lodern, bis die Welt rotgewaschen ist vom Blut der Ungläubigen und Abtrünnigen. Tod den Verrätern! Tod den Renegaten! Tod Adama!«