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Image by Pelly Benassi

      Perikope I - Inkarnation

 

Kapitel I-1 - Die Wiedergeburt

Er platzte aus dem feuchten Erdreich wie ein überreifer Pilz nach einem warmen Regenschauer. Die weiche Membran, die ihn wie eine Patina bedeckte, gab seinem unermüdlichen Kampf nach, barst und rutschte von dem nackten, haarigen Körper, der noch bis zum Hals im Erdboden steckte.

Ohrenbetäubende Laute, allesamt unbekannt und fremd, krachten in seinem Trommelfell unaufhörlich wie reißende Wasserfälle. Das Kreischen der Vögel, das Heulen des Windes, das Rauschen und Plätschern ferner Gewässer fraßen sich durch seinen Schädel wie rasiermesserscharfe Klingen. Sie verursachten ihm unvorstellbare und unheilvolle Qualen, wie er sie sich nie auch nur annähernd hätte ausmalen können.

Er war blind wie ein Fisch - er hatte nicht im Entferntesten eine Ahnung, was ein Fisch sein könnte - doch das grelle Tageslicht, das durch seine Netzhaut drang und ihr dicke, salzige Tränen abrang, war blendend, berauschend und verheerend zugleich.

Seine verfilzte Mähne schleuderte er in den Nacken, öffnete den dicht behaarten Schlund und sog die Frischluft ein, als wäre sie ein neues Selbst, ein zweites Ich, so selbstverständlich und kalt wie der Atem seiner Seele. Die Luft brannte in seinen Lungenflügeln, die unter der pergamentdünnen Haut schrumpelten und sich wieder blähten, als ob die Rippen drohten, sich gleich durch das spärliche Fleisch an die Oberfläche zu bohren, ähnlich wie der schlammige Boden soeben ihn selbst ausgespieen hatte.

Er würgte und kotzte einen braunen Ball heraus und spuckte ihn kraftlos in seinen langen, strähnigen Bart, während sich seine weißen Tränen mit gelbem Rotz verbanden, der unaufhörlich aus der schmutzbedeckten Nase lief.

Merkwürdige, fremdartige Gerüche erschnüffelte er wild und rastlos. Die frischen Reize stellten in seinem Verstand ein heilloses, überwältigendes Durcheinander an, angesichts dessen er nahezu bereitwillig aufgab, dem Chaos Einhalt zu gebieten.

Mühsam schälte er seine Arme aus dem Grund, warf sie aus wie Angelruten und krallte die langen, spitzen Nägel in weiche schwarze Erde. Verzweifelt versuchte er, irgendwo Halt zu finden, griff in den Dreck, suchte nach Wurzeln oder Knochen und zog sich Stück für Stück aus dem triefenden Elend, als wäre er ein sich häutendes Kriechtier.

Warum er dies tat, warum er sich nicht einfach seiner tumben Prädestination ergab und starb, konnte er im Rausch seiner neu gewonnenen Freiheit nicht sagen, selbst wenn es ihm möglich wäre, dezidiertere Laute preiszugeben als hohles Geschrei, dumpfes Stöhnen oder würgendes Grunzen. Irgendein tiefer Instinkt ließ ihn dieses Meer an Pein durchleiden und drängte ihn dazu, weiter hindurchzuwaten, den Schmutz trotz dessen bleiernen Allgegenwart von sich zu streifen, sich nicht zu ergeben, dieses unglaubliche Wunder, das er gerade erlebte, niemals aufzugeben.

Indes die langen, sehnigen Arme ungelenk durch die Luft paddelten und wiederholt auf den Boden schlugen, drückte er seine grobschlächtigen Fußballen mit den schartigen Zehen in den teigigen Unterboden. Knochensplitter und Schädelstücke bohrten sich unbarmherzig in sein verletzliches Fleisch und hinterließen blutige Schrammen - so wie damals schon, in der höhlenden Finsternis seines Lebens, in der das flächendeckende Gebein lückenlos Blut und Eiter für Schritt und Tritt forderte.

Damals … vor einer Ewigkeit, nein vor zehn Ewigkeiten, als die Düsternis noch sein ganzes Dasein erhellt und er nichts gewusst hatte von dem Leben jenseits der einst alles erfüllenden Membran seiner kargen und kahlen Wirklichkeit.

Er schlängelte seinen Körper wie einer der unzähligen Würmer, die sich früher in der allmächtigen, dunklen Tristesse auf seinem Leibe gewunden hatten. Und so wie er dieses Gewürm mit seinen fleischigen, aufgeplatzten Lippen aufgesaugt hatte, um den hohlen Schmerz in seiner Körpermitte zu besänftigen, wurde er nun Stück für Stück selbst von etwas verschlungen, von etwas, das sich, wie er später erfahren sollte, Welt nannte.

Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung hievte er den Rumpf aus dem Loch und schliff die besudelten Beine hinterher. Schließlich schaffte er es, seinen Körper der Erde abzuringen und sich aus dem Dreck des Erdbodens zu befreien.

Schwach und hilflos kippte er auf den Rücken und starrte mit blinden, tränenden Augen in das grell leuchtende Grau des offenen und grenzenlosen Tageshimmels.

Und so lag er da … zitternd wie Espenlaub, während ihm die Haare auf der nackten Haut zu Berge standen. Er krächzte bei dem Versuch, die kalte Luft einzuatmen und die seinen Geist in die Knie zwingende Reizüberflutung irgendwie zu bewältigen. Und trotz der Mühen und der Drangsal, die er unweigerlich litt, erfüllte ihn seine jüngste Tat mit einem ersten Anflug von Stolz, Zufriedenheit und Aufregung.

Die emotionale Euphorie verflog allerdings so rasch, wie sie ihn heimgesucht hatte, da ein anderes Gefühl begann, sich seiner zu bemächtigen: Angst! Überwältigende, alles verschlingende und vernichtende Angst! Angst, seine jüngste Errungenschaft unwillkürlich wieder zu verlieren. Und er würde alles wieder verlieren, bliebe er hier liegen, alles verlieren an den unvermeidlichen Tod, dieser seit Anbeginn seines Bewusstseins in ihm wuchernden Gewissheit, dass er vergänglich war und früher oder später diesem Umstand sich würde stellen müssen. Dass er die sich nähernde Gegenwart des Todes empfand, gerade jetzt, da er dieses Geschenk eines neuen, begehrenswerten Lebens erfahren durfte, verwirrte ihn zunehmend. Diese Verwirrung wurde genährt durch die unwirtliche, unheimliche und unbegrenzte Umgebung, deren facettenreiche Eindrücke erbarmungslos auf ihn eindroschen.

Er entschloss sich zu leben.

Mit ganzer Kraft kämpfte er gegen die ihn zu übermannen drohenden Irrungen an, rollte sich mühsam bäuchlings und stemmte sich auf alle Viere.

Und er krauchte hechelnd und sabbernd Stück für Stück vorwärts, sein altes dunkles Heim langsam, doch stetig hinter sich lassend, den Grund ebenso wenig kennend wie ein Ziel. Er hinterließ schneckengleich eine Schleimspur zu Teilen aus Schweiß, Membran und Exkrement, tropfend und glitschig. Tapfer - wie ein Soldat - glitt er vorwärts.

Da stieß er sich den Kopf ganz unvermittelt an einer Wand.
Ihn wunderte, dass es auch hier in der wilden Freiheit so etwas gab. Eine Wand aus Erde, die in ihm den natürlichen inneren Zwang hervorrief, sich daran hochzudrücken. Er grunzte und freute sich. Die Erde hatte ihm stets alles gegeben, was er zum Überleben benötigte, und Erde hatte es hier schließlich genug.

Quiekend und gackernd stemmte er seine Hände so fest in die Wand, spannte seine Muskeln so stark an, dass die blauen Adern an den aufgeblähten Extremitäten nahezu zu leuchten begannen.

Er zog sich empor und richtete sich auf.

Die flüchtige Zufriedenheit über seinen Fortschritt wich rasch kaltem, nacktem Entsetzen. Der Schrecken, den er empfand, war unvergleichlich.

Mit dem Oberkörper lehnte er an der Kante einer etwa brusthohen Grube. Der kalte Wind umwehte seine schweißbenetzte Brust und ließ ihn empfindlich frösteln und schaudern.

Eine Krähe flog dicht an ihm vorbei, er schrie auf und zuckte zusammen. Geröll fiel, eine Ratte lief über Steine, ganz in der Nähe rasselte eine Schlange.

Nur eine plötzliche Eingebung bestimmte nun sein Handeln und gab ihm die notwendige innere Klarheit, ihr auch konsequent und bedingungslos Folge zu leisten. Er musste weg hier.

Er musste weg hier, so schnell wie möglich.

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